Leserbrief zu SZ-Artikel: Diagnostik: Corona-Test – und dann?
Diagnostik: Corona-Test – und dann?
Von Berit Uhlmann, 9. November 2020
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/corona-covid-19-coronatest-sars-cov-2-1.5108318
Feedback von Dr. Götz-Dietrich Opitz (c), 12.11.20 (7.393 Zeichen)
Ihr Artikel zum PCR-Test ist tendenziös, lautet doch seine Kernaussage: „Technisch sind die PCR-Tests auf Sars-CoV-2 sehr zuverlässig“. Worin aber soll diese hohe Zuverlässigkeit begründet sein? Dass Sie in diesem Kontext die fundamentalen Gütekriterien „Sensitivität“ und „Spezifität“ von PCR-Tests nicht erklären, nicht einmal erwähnen, stimmt skeptisch.
Eingangs ist zum einen festzuhalten, dass der Anfang der 1980er Jahre entwickelte PCR-Test nicht als massenhaft eingesetztes Instrument der epidemiologischen Prävention, nicht einmal zur individuellen Diagnostik bereits Erkrankter, erfunden wurde, sondern ausschließlich zu Forschungszwecken. In der Forschung weiß man aber, welche Substanzen in der Probe enthalten sind, die man mit Hilfe der PCR zu bestimmten Zwecken vervielfältigen möchte.
Nun wurden aber in Deutschland mit Stand vom 9. November 2020 bislang mehr als 23 Mio. Tests bundesweit durchgeführt, in der überwiegenden Mehrzahl an symptomlosen Menschen. Wie anfällig die Massentestpraxis von der Probeentnahme, der Verarbeitung und Auswertung in den ca. 180 Laboren bis hin zur richtigen Interpretation der Ergebnisse für Fehler ist, haben Sie angedeutet. Auf diese vielen Fehlerquellen möchte und kann ich hier nicht eingehen.
Diese Praxis hat jedoch neben Probenverwechslungen und Verunreinigungen im Rahmen der Präanalytik etc. einen großen Einfluss auf die Spezifität des PCR-Tests. D.h., misst dieser überhaupt das, was gemessen werden soll (Validität) – und das auch genau? Grundsätzlich ist es so, dass das PCR-Testverfahren nur die virale RNA nachweist, nicht das intakte Virus.
Sie behaupten, dass „in der Regel nach zwei Genen“ des 10 Gene umfassenden Genoms des neuartigen Coronavirus gesucht werde, „manchmal sogar nach drei.“ Laut Fachinformation von Biovis Diagnostik, einem Großanbieter umfangreicher Laboranalysen, setzen jedoch „viele Labore zum Nachweis von SARS-CoV-2 PCR-Verfahren ein, die nur das E-Gen des Virus erkennen“, da diese kostengünstiger seien. Das E-Gen sei aber „nicht spezifisch für SARS-CoV-2“, sondern auch für andere Coronaviren. (siehe: http://bitly.ws/aykz, S.6).
Kein Test ist jemals 100-prozentig sicher. So zeigen laut Deutschem Ärzteblatt Ringversuche, „dass die Spezifitäten der verwendeten SARS-CoV-2-PCRs in Deutschland 97-100% erreichen“. In einem Praxishinweis im British Medical Journal mutmaßen Jessica Watson und Kollegen sogar, „dass der RT-PCR-Test eine Sensitivität von 70% und eine Spezifität von 95% aufweist“ (http://bitly.ws/ayjX). Das Problem ist, dass dies nur Annahmen sein können, da es beim PCR-Test, der nicht binär ist, keinen Goldstandard gibt. Es sei denn, man wendet ihn ausschließlich diagnostisch bei bereits Erkrankten an zur Eingrenzung der Symptomatik.
Für einen Schwangerschaftstest beispielsweise wäre der Goldstandard das Ultraschallbild des Embryos. So ist man beim PCR-Test auf den Ct-Wert angewiesen, den Sie beschreiben. Doch nach wie vielen Zyklen soll der „Cutoff“ sein? Denn je mehr Schritte zur Vervielfältigung für ein positives Testergebnis nötig sind, desto geringer war die Menge an Virusmaterial in der Ausgangsprobe. Doch eine „sehr geringe Viruslast“, wie Sie selber schreiben, „deutet darauf hin, dass der Getestete nicht infektiös ist“. So muss ein (auch richtig) positives Testergebnis nicht zwingend Infektiosität bedeuten. Das RKI weist darauf hin, dass der Ct-Wert von Labor zu Labor nicht unmittelbar verglichen werden kann. Denn: Der Test ist nicht standardisiert!
Hier kommt die „Prävalenz“ ins Spiel, also die Maßzahl, die angibt, welcher Anteil einer Population zu einem definierten Zeitpunkt einen bestimmten klinischen Zustand aufweist oder einem Risikofaktor ausgesetzt ist. Sie beantwortet die Frage: Welcher Anteil einer Gruppe von Personen hat ein bestimmtes Merkmal? So wird die Prävalenz von Covid-19 in einer Arztpraxis auf dem Land geringer sein als in einem Altenheim in der Stadt.
Doch wie hoch ist die Prävalenz in der deutschen Gesamtbevölkerung, die gegenwärtig massengetestet wird? Man weiß es schlichtweg nicht! In Bezug auf eine große Population wie einem Volk spricht man auch von „Durchseuchung“. Sie beschreibt den Grad der Verbreitung einer Infektionskrankheit und berücksichtigt dabei sowohl die Anzahl der Infizierten als auch diejenige der bereits Genesenen. In Gangelt lag dieser Grad laut Virologe Hendrik Streeck bei 15%. Vom Durchseuchungsgrad hängt ganz entscheidend ab, wie aussagekräftig Sensitivität und Spezifität des PCR-Tests sind: je höher dieser Grad, desto genauer sind die Tests.
Eine Annährung an den Durchseuchungsgrad der deutschen Bevölkerung stellt die repräsentative Antikörperstudie des Tropeninstituts am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München bereit, an der im Sommer 2020 mehr als 5.300 Münchnerinnen und Münchner über 14 Jahren teilnahmen. Das Ergebnis: Es gab viermal so viele Infizierte wie bislang gedacht, 1,8% der Untersuchten hatten während der ersten Welle bis Juni Antikörper entwickelt. Laut Michael Hölscher, Leiter des Tropeninstituts, liefert die Arbeit wertvolle Erkenntnisse, „um die Durchseuchung in der Bevölkerung zu verstehen“.
Gehen wir also davon aus, dass der Durchseuchungsgrad Deutschlands gegenwärtig bei etwa diesen 1,8% liegt. Gehen wir weiter aus von einem sehr zuverlässigen PCR-Test, der eine Sensitivität und eine Spezifität von jeweils 99% aufweist. Darüber hinaus legen wir die Zahl von 23.393.311 Tests zugrunde, die bis zum 9. November durchgeführt wurden. Nun kann in einer Vier-Felder-Matrix die Anzahl der „falsch positiven“ Testergebnisse ermittelt werden – zumindest in der Theorie. Denn richtig ist, wie Sie erwähnen, dass es „exakte Zahlen zur Falsch-Positiv-Rate nicht gibt“ – auch wegen mangelnder Kontrolle positiver Ergebnisse.
Von ihr behaupten Sie, es gäbe „Gerüchte“, wonach „positive Testergebnisse massenhaft falsch seien“. Diesen Gerüchten widersprechen Sie mit dem bereits zitierten Urteil, die PCR-Tests seien „sehr zuverlässig“. Doch hält diese Behauptung der Theorie stand, wenn man den ermittelten Wert der LMU-Studie in die Gleichung mit einbezieht? Das Ergebnis: 36% der in Deutschland als positiv Getesteten sind wahrscheinlich „falsch positiv“ (229.722), d.h. mehr als jeder dritte, der positiv getestet wird, ist dies der Berechnung zufolge zu Unrecht (s.u.).
Diese grobe Test-Ungenauigkeit ist umso erschreckender, als laut Deutschem Lehrerverband mittlerweile mehr als 300.000 Schülerinnen und Schüler und bis zu 30.000 Lehrerinnen und Lehrer in Quarantäne sind. Die Folge seien immer mehr Schulschließungen, so der Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger: „Wir erleben an den Schulen jetzt einen Salami-Lockdown“. Die Politik aber habe sich zurückgezogen, die Gesundheitsämter entscheiden. Ausgerechnet die Gruppe, die in der Krise große Solidarität mit den Risikogruppen bewiesen hat, aber am wenigsten infektiös ist, wird ihres Rechts auf Bildung beraubt. Ein Skandal!
Wenn schon PCR-Massentests durchgeführt werden müssen, wofür indes wenig spricht, dann sollten sie zumindest standardisiert sein. Selbst der Virologe Christian Drosten spricht sich für eine Standardisierung aus. PCR-Tests haben sicherlich ihren Platz. Sie sollten aber nur noch gezielt bei bereits Erkrankten zur Diagnose und in den vulnerablen Personengruppen zur Prävention eingesetzt werden. Das würde auch unnötige Kollateralschäden vermeiden helfen. So verdichtet sich abschließend der Eindruck, dass die SZ die PCR-Tests behandelt wie viele andere Corona-relevante Themen auch. Dass nämlich nicht sein kann, was nicht sein darf.
GÖTZ-DIETRICH OPITZ, Jahrgang 1964, Dr. phil. der Amerikanischen Kulturgeschichte (US-Forschungsaufenthalt in New York City 1994-95), ist PR-Experte, Publizist und Fundraiser. Derzeit arbeitet er für die Munich Fundraising School und engagiert sich für „The Natural Step Deutschland“ sowie für WSA Germany. An der Fresenius-Hochschule München hielt er im WS 2016/17 einen Lehrauftrag zum Thema „Journalismus und PR“ ab. 2001-02 arbeitete er als Programmdirektor beim internationalen Konferenzzentrum „Salzburg Global Seminar“. Nach seiner Tätigkeit als Wahlkampfsekretär für Otto Schily (MdB) 1990-91 arbeitete er in Washington, D.C. 1991-92 als Congressional Fellow für Hon. Charles B. Rangel im Repräsentantenhaus des US-Kongress. Er publizierte zahlreiche Artikel und Monographien, Interviews, Vorträge und Seminare. Seine Interessen reichen von Sport über Reisen bis hin zum Chorsingen (MiCS) und Komponieren.