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Corona: Virus-Angst und Naturentfremdung

von Dr. Götz-Dietrich Opitz (c), 30.09.2020 (19.999 Zeichen)

Ein Vergleich der Corona-Krise 2020 mit der Spanischen (1919), der Asiatischen (1958) und der Hongkong-Grippe (1969) ist aufschlussreich: Während die damalige Reaktion Deutschlands auf diese Pandemien aus heutiger Sicht „empathielos“ (Marcel Görmann) erscheint, lässt sich für 2020 infolge des demografischen Wandels eine gestiegene Empathie zwischen der politischen Klasse und den mit größerer Wahlmacht ausgestatteten, älteren Generationen feststellen. Gerontokratische Tendenzen zeigen sich im Vergleich der 20-49-Jährigen mit der Generation 50+, die beide im Unterschied zu den unter 20-Jährigen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung 2019 auf unter 20% sank, über das Wahlrecht verfügen: Von Wählern im Alter von 50+ gab es 6,5 Mio. mehr als 20-49-Jährige. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug 45%, derjenige der 20-49-Jährigen aber nur 37%.

„Die Ängste steigen, je älter wir werden“, so Brigitte Römstedt, Studienleiterin der von der R+V Versicherung durchgeführten Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“. Die Angst vor einer schweren Erkrankung, die mehr als dreimal so groß wie bei Teenagern sei, war 2019 auffällig. Ein Jahr später waren die älteren Risikogruppen im Vergleich zu 1919/1958/1969 weitaus mehr von Covid-19 betroffen als die Jungen. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind 86% der an oder mit Sars-CoV-2 Verstorbenen über 70 Jahre alt, der Altersmedian beträgt 82 Jahre. Die Lebenserwartung für neugeborene Mädchen beträgt fast 83, für Jungen nahezu 78 Jahre.

Die deutsche Corona-Politik verfassungsrechtlich fragwürdiger Maßnahmen („Lockdown“ 23. März 2020), die unbeabsichtigt zu mehr Toten geführt haben könnten, wie Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, bereits Mitte Mai 2020 mahnte, erscheint als Resultat einer wechselseitigen Eskalation der Angst. Sie wurde von den klassischen Medien und dem Social Web im Angesicht eines „Killervirus“ und in der „Sehnsucht nach [wissenschaftlicher] Eindeutigkeit“ (Julian Nida-Rümelin) verstärkt. Vieles weist auf eine Überreaktion des Staates auf die Virus-Angst hin. Die Politik nahm die größte Rezession in Nachkriegsdeutschland und eine Neuverschuldung auf Rekordniveau in Kauf. Sie lastet als schwere Hypothek auf den Schultern der jungen Generation, die in der Krise Solidarität mit den Älteren bewies und deren größte Sorge aber der Klimaschutz ist.

Die Reaktion auf ein „Naturereignis“ wie das einer Epidemie (Jan Fleischhauer) lässt sich im Vergleich zu 1919/1958/1969 mit dem Buchtitel des Medizinhistorikers David Rengeling als eine Entwicklung „vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention“ (2017) umschreiben. Welche Rolle spielte darin neben der Überalterung der Gesellschaft und der höheren Ängstlichkeit Älterer die Beziehung des Menschen zur Natur? Ist heute eine seit 1969 zugenommene Entfernung von der Natur festzustellen? Ist diese Naturentfremdung der Deutschen mitverantwortlich für ihre Reaktion auf das Virus?

„Durch Corona ist der Tod allgegenwärtig“ (Tagesspiegel) – die Virus-Angst ist eine Todesangst. Doch im Gegensatz zur Furcht vor dem Atomtod der 1980er Jahre, hinter dem eine vom Menschen geschaffene Hochtechnologie steht, und im Unterschied zur Angst vor dem Terror seit 9/11, der im Nahbereich des Alltags droht, verhält es sich beim Corona-Virus anders: Der Erreger wird vom Angsthabenden als eine aus der äußeren Natur kommende Kraft wahrgenommen, die imstande ist, in den eigenen Körper einzudringen, um dort seine tödliche Macht von innen heraus zu entfalten.

Das Virus wirft den Menschen zurück auf sein biologisches Dasein. Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise ging es darum, am Leben zu bleiben (Infektionsschutz), das Im-Leben-Bleiben hatte sich diesem Ziel unterzuordnen (Kontaktsperre). So beschnitten die verordneten Maßnahmen die Identität des Menschen als soziales und kulturelles Wesen. Das Virus, das weit entfernt auf dem Markt von Wuhan in China seinen Ausgang nahm, wird als ein nicht-menschengemachter und abstrakter Feind betrachtet, der von außen kommt. So stellte Präsident Emmanuel Macron zur Rechtfertigung der Ausgangssperre 2020 fest: „Wir sind im Krieg“.

Warum ist das so? „Wir sind die entfernten Nachkommen des Urknalls“ (Carl Sagan): Die Menschheitsgeschichte kann als ein Entfremdungsprozess gelesen werden, der seinen einstweiligen Höhepunkt in der Corona-Pandemie hatte. Von der kognitiven vor etwa 70.000 Jahren über die landwirtschaftliche vor rund 12.000 bis zur wissenschaftlichen Revolution vor knapp 500 Jahren musste sich das sprachbegabte und denkfähige Tier namens Homo sapiens als „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) mit sich und der ihn umgebenden Natur, deren Teil es war, auseinandersetzen, wollte es überleben.

In der neolithischen Revolution, in der im Übergang zum Ackerbau die Idee individuellen Eigentums an Grund und Boden entstand, erkrankten wesentlich mehr Menschen als vorher; nach Einführung der Viehzucht vor allem an Infektionen durch den häufigen, engen Kontakt mit Vieh (Spencer Wells 2003). Doch dank dieser Revolutionen wurde der Mensch zum unangefochtenen Beherrscher – und zur Bedrohung des Planeten Erde zugleich.

Die Bändigung des Feuers vor rund 300.000 Jahren war, so der Historiker Yuval Noah Harari, „der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe“ (2013). Mit der Zündung der ersten Kernwaffe 1945 begann das „Anthropozän“. Die Öko-Krise ist der bedrohlichste Ausdruck für das neue Zeitalter. In ihm hat der Homo sapiens auf der Erdkruste eine künstliche Schicht von Strukturen – Gebäude, Straßen und Autos bis hin zu Elektroschrott und Plastikmüll – geschaffen, die man „Technosphäre“ nennt. Diese Menschenlast wiegt bereits mehr als Flora und Fauna zusammen: 50 kg pro Quadratmeter Erdoberfläche.

Wenn sich die Technosphäre dort verdichtet, wo der moderne Mensch mehrheitlich lebt, ist die Verstädterung Maßstab für seine Naturentfremdung: Die Zahl der städtischen Bevölkerung hat sich zwischen 1950 und 2000 von 0,75 Mrd. auf 2,9 Mrd. vervielfacht, ihr Anteil an der Weltbevölkerung erhöhte sich von 29,8% auf 47%. Europa hat seine Vergangenheit als überwiegend ländlich geprägter Kontinent hinter sich gelassen. So lebten 2018 rund 77,3% der Gesamtbevölkerung Deutschlands in Städten. Obwohl nur 15% der Deutschen in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern leben, gelte auch für den ländlichen Raum, dass „wir eine urbanisierte Gesellschaft haben“ (Ulrike Gerhard).

Deutschland befand sich 2015 unter den europäischen Ländern, deren städtischen Haushalte zu mindestens 90% einen Internetanschluss hatten. Der Anteil der Stadtbewohner in Europa, die angeben, in Gegenden mit Umweltproblemen zu leben, war hierzulande mit 32,5% relativ hoch (Urban Europe 2016). Möchte der gestresste, nicht selten depressive Stadtmensch das „typisch deutsche Kulturgut“ Wald nutzen, um sich von der lichtintensiven sowie bewegungs- und schlafarmen Technosphäre zu erholen, trifft er auf wiederaufgeforstete „Wirtschaftswälder“, „naturnaher Wald“ ist die Ausnahme.

Die Marxsche Theorie unterscheidet zwischen Selbstverwirklichung als Gattung in der Natur und als Individuum in der Gesellschaft. Die Vergesellschaftung des zunehmend urbanisierten und digitalisierten Menschen ist auf Kosten des ersteren Verständnisses weit fortgeschritten. Im Gegensatz zum Wildbeuter vor der Sesshaftwerdung ist der Naturkontakt des modernen Menschen sehr gering, er/sie lebt größtenteils in seiner/ihrer selbstgeschaffenen Technosphäre urbaner Zentren. Diese stellen unter Corona „Brennpunkte für Ansteckungen“ dar, so der US-Ökonom Jeremy Rifkin.

Die Technosphäre dringt – unter der Gefahr von Zoonosen – verstärkt in bislang ungestörte Lebensräume ein, in der noch Wildtiere leben. Sie beherbergen als Wirte unzählige Viren, die wir noch gar nicht kennen. Das ist der Zusammenhang zwischen Öko- und Corona-Krise, beide muss man zusammenzudenken. Forscher warnen seit langem vor dem „tödlichen Dutzend“ – schon bekannte Krankheitskeime, die sich aufgrund der sich verschiebenden Klimazonen verstärkt ausbreiten können. Darauf wies RKI-Präsident Lothar Wieler mit Blick auf China schon am 10. Januar 2020 hin, in einem Kommentar mit dem Titel „Klimawandel bringt auch neue Seuchen“.

Dass Corona Folge der Öko-Krise ist, ist auch Kanzlerin Merkel bewusst. Am 28. April 2020 sagte sie auf dem XI. Petersberger Klimadialog: „Wissenschaftlern zufolge sind in den letzten Jahrzehnten 60% aller Infektionskrankheiten von Tieren auf Menschen übertragen worden. Das ist insbesondere auf die verstärkte Nutzung bislang ungestörter Lebensräume und der damit verbundenen Nähe zu wilden Tieren zurückzuführen“. Die 17 Ziele der UN-Agenda 2030 (SDGs), darunter Gesundheit und Klimaschutz, machten deutlich, „dass es nachhaltige Entwicklung nicht zulasten einzelner Ziele geben“ könne. Der WWF mahnt seit April 2020: „Die Auswirkungen der Corona-Krise können die hart erkämpften Naturschutz-Erfolge zunichtemachen und die Existenz vieler Arten noch weiter bedrohen“. Dennoch wurde bislang noch kein „Krisenstab“ für die Umwelt eingerichtet wie bei Corona.

Der Mensch ist als biologisches Wesen Ergebnis der genetischen Evolution, in ihr spielten Viren eine zentrale Rolle. Sie sind „die entscheidenden Impulsgeber“, so der Sozialmediziner Thomas Hardtmuth: „Viren sind die Motoren für … Artenvielfalt. Und – die wohl wichtigste wissenschaftliche Entdeckung des 21. Jahrhunderts: Unser gesamtes Erbgut ist aus Viren aufgebaut“. Wenn man bedenkt, dass wir „mit jedem Salatblatt, das wir essen, etwa 1 Milliarde Viren zu uns nehmen“ und sich in den Körperzellen Viren tummeln, von denen wir „nicht einmal 1 Prozent kennen“, kann das Virus kein von außen kommender Feind sein.

Das bedeutet nicht, dass Viren – deren natürliches Wirken nicht auf die Tötung des Wirtes, von dem sie abhängen, gerichtet ist – auch tödlich sein können. Doch müsse in salutogenetischer Sicht auch die Frage gestellt werden, so Hardtmuth, warum viele Menschen an einem beliebigen Infekt nicht erkranken, anstatt beim „Ansteckungsgedanken“ zu verharren. Dass die Infektionserkrankungen im 19. und 20. Jahrhundert zurückgedrängt werden konnten, sei fast ausschließlich der – auch sanitären – „Verbesserung der Lebensverhältnisse“ geschuldet.

Der medizinische Fortschritt, den die Zivilisation mit sich brachte, hat die Lebenserwartung erheblich erhöht und lässt Seuchen in historischer Sicht als das erscheinen, „was heute Herzprobleme sind“ – vor allem in der westlichen Welt. Es dauerte Jahrhunderte, ansteckende Krankheiten so weit zurückzudrängen, „dass wir heute den Luxus haben, am Alter zu sterben“ (Tagesspiegel). Diese „Kompressionsthese“ besagt, dass die Morbidität bei steigender Lebenserwartung abnimmt, die Zeitspanne zwischen erstmaligem Ausbruch einer gravierenden Erkrankung – viele der im Zusammenhang mit Covid-19 vom RKI aufgezählten Vorerkrankungen sind naturferne „Zivilisationskrankheiten“ – und dem späteren Sterbezeitpunkt wird kleiner. Lebensbedrohliche Krankheitsereignisse sind „zunehmend auf einen Zeitpunkt kurz vor Eintritt des Todes verschoben“.

Das RKI bezeichnet die Kompressionsthese für Deutschland als „zutreffend“. Ein Land, das als technisch gut organisierter Sozialstaat dennoch die „Angst vor der Angst“ kultiviert hat, und dessen „Vollkaskosystem“ dafür sorgt, dass man bis ins hohe Alter hinein statistisch „ziemlich nah an der Sorgenfreiheit“ leben kann (Max Scharnigg)… bis das Virus plötzlich zuschlägt. Zu den Vorerkrankungen zählt auch Adipositas. Heute ist der Überfluss an Nahrungsmitteln das größere Problem, der Fettleibigkeit fallen weltweit mehr Menschen zum Opfer als dem Hunger. Dieser hat allerdings wegen Corona global wieder zugenommen: UN-Schätzungen zufolge führen die Corona-Beschränkungen im ersten Pandemiejahr zum Hungertod von mehr als 10.000 Kindern pro Monat. Das ist aber kaum bekannt.

Die westliche Welt hat den Tod verdrängt, sie will sich nicht mehr abfinden mit den Grenzen, die ihr die Natur setzt: So arbeiten gegenwärtig sieben Forschungsansätze an technischen Möglichkeiten, den Tod weiter hinauszuschieben und menschliches Leben zu verlängern, indem sie versuchen, das Altern auszutricksen. Der Virologe Hendrik Streeck hingegen weiß: „Jeder einzelne Tote ist eine Tragödie, aber es ist die Natur der Dinge“. Vor „Alarmismus“ warnend, sei seine größte Sorge, „dass wir an einen Punkt gelangen, wo wir alle Viren … bekämpfen wollen“. Wir müssten lernen: „Sie gehören zu unserem Leben“.

Auffällig ist, dass zur Zeit der Asiatischen Grippe die Bevölkerung Impfungen weitestgehend ablehnte, so der Medizinhistoriker Wilfried Witte in Pandemie ohne Drama (2013), und laut Görmann setzte 1969 „die Politik auf Herdenimmunität“. In Corona-Zeiten jedoch sei sie bemüht, „die Zeit zu überbrücken, bis ein wirksamer Impfstoff“ gefunden ist. Während 1969 die Epidemie „fatalistisch“ (Fleischhauer) hingenommen worden sei, scheint heute ganz Deutschland der Entwicklung eines Impfstoffs entgegenzufiebern – einer menschengemachten Hochtechnologie.

Nur 10% lehnen laut einer Umfrage der Apotheken-Umschau Impfungen ab oder finden sie unnötig, 27% jedoch halten sie jetzt für noch wichtiger als zuvor, 41% würden sich auf jeden Fall gegen Corona impfen lassen. Dies obwohl bis zum routinemäßigen Einsatz im Schnitt elf Jahre vergehen. Und obwohl unter den mehr als 200 Projekten weltweit sich auch solche befinden, die mit Gen-basierten Stoffen experimentieren. Mit diesen hat man entweder noch überhaupt keine Erfahrungen (RNA) oder sie sind nur als Tierimpfstoffe (DNA) zugelassen: „Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention“ (Rengeling).

Zudem starrt die Öffentlichkeit wie gebannt auf die täglichen „Zahlen“ der – meist symptomlosen – „Infektionen“, als seien alle Getesteten infektiöse Covid-Erkrankte. Dabei verlässt sie sich auf eine weitere Technologie: die von Christian Drosten entwickelten, nicht-standardisierten PCR-Tests, die ungenau sind („falsch Positive“ etc.). Sie wurden zur individuellen Diagnostik bereits Erkrankter entwickelt, nicht als massenhaftes Instrument der epidemiologischen Prävention.

Walter Plassmann, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, gab zu bedenken, dass bei Corona „die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, sehr gering, … zu erkranken, hoch gering und … gar zu sterben, äußerst gering“ sei. Laut RKI schwankte die Differenz der Todesfälle zum Vortag im Spätsommer 2020 zwischen 0 (26.07./21.09.) und 14 (14.08.). Als Ministerpräsident Söder die Furcht einflößende „Triage“ bemühte, lag sie zwischen 6 und 43 (12./14.10), nachdem sie am 16.04. noch bei 315 gelegen hatte. Als damals die Verbreitung des Virus rasch – nie exponentiell – anstieg, reichte die Intensivbettenkapazität (30.000+ insg.) völlig aus.

Mit dem beliebigen „Warnwert der 7-Tage-Inzidenz von 50 [bzw. 35] Infizierten pro 100.000 Einwohner“ wird seit Juni 2020 mit dem Anstieg der PCR-Testergebnisse auf der rechtsstaatlich schmalen Grundlage des Infektionsschutzgesetzes gemäß der AHA-Formel (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) die Aufrechterhaltung von Grundrechtseinschränkungen bzw. deren Verschärfung gerechtfertigt. Eine Dynamik, die Züge eines Gemeinwesens trägt, das einer covideologischen Virokratie gleicht. So umfasst die „Blankovollmacht“ für den Bundesgesundheitsminister, die mit dem „verfassungsrechtlich hochgradig problematischen Ausnahmerecht“ einer „epidemischen Notlage“ geschaffen wurde, dem Staatsrechtler Thorsten Kingreen zufolge „weit mehr als 1.000 Vorschriften“ – eine Exekutive im „Panikmodus“ (Gassen).

Ob aus der Corona-Krise die Hoffnung erwächst, „fürs Klima zu lernen“, wie die Greenpeace-Expertin Lisa Göldner im März 2020 bekundete, bleibt abzuwarten. Dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft den europäischen Green Deal und die europäische Biodiversitätsstrategie unterstützt, gibt Anlass zu dieser Hoffnung. Der Erfolgsdruck ist groß –zeigt doch das Virus für Rifkin, der sich von der Krise einen „gewaltigen Bewusstseinswandel“ erhofft, auf, „dass wir vom Aussterben bedroht sind“.

„Vielleicht noch nie in der Geschichte hatte eine Generation so große Macht, den Verlauf der nächsten Jahrhunderte und Jahrtausende zu prägen“ (Christoph von Eichhorn). Eine Erkenntnis, die man in Zeiten der sich zuspitzenden Öko-Krise in vielen Varianten immer häufiger liest. Bestsellerautor Rifkin meint, „es wird keine zweite Chance mehr geben“. Die junge Greta-Generation, die sich mit ihren Protesten auf den zahllosen „Fridays for Future“-Demonstrationen weltweit Gehör zu verschaffen sucht, ist noch nicht alt genug, diese „große Macht“ auszuüben. Es ist die ältere Generation, die noch an den Schaltstellen der Macht Verantwortung trägt. Sie täte aus ökologischen Gründen gut daran, die von den Jungen in der Corona-Krise geleistete Solidarität wettzumachen. Diese zu erwidern, käme dem von Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber vorgeschlagenen „Klima-Corona-Vertrag“ zwischen den Generationen gleich. Die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, um der Wahlmacht der Älteren entgegenzuwirken, könnte Teil dieses Vertrags sein.

Der Naturentfremdungsprozess ist indes noch nicht abgeschlossen: Forschungen auf dem Gebiet der Biotechnologie (Gentechnik), der Cyborg-Technik (Maschine-Mensch-Schnittstelle) und des nicht-organischen Lebens (künstliche Intelligenz), die Harari (2017) und andere beschreiben, könnten zur Konsequenz haben, dass der Mensch seine eigene Biologie abschafft. Aus Sicht der Biosphäre ist der Mensch das gefährlichere „Virus“. Die „Pandemie“ von knapp acht Mrd. konsumfreudiger Menschen weltweit ist die größere Gefahr – mit der sich der Mensch selbst bedroht. Auf der Schwelle zwischen Tier und Maschine besteht die real gewordene Gefahr, dass das Anthropo-zän zum Anthropo-zid wird.

Wenn es der Menschheit nicht gelingen sollte, das Öko-Drama abzuwenden, „steht noch eine letzte hoffnungsfrohe Möglichkeit offen“, das „Klimabeben“ (2020) zu überstehen. Diese Möglichkeit erschließt sich „aus der Erdgeschichte der Evolution“ – bei der ja Viren eine Rolle spielen: „Das Genom hält unendlich viele Mutationsvarianten bereit, sich neuen Umweltbedingungen anzupassen. … Auch vom Menschen werden einige Exemplare Resistenzen entwickeln und überleben; die großen Epidemien Pest, Spanische Grippe, Ebola haben es bewiesen. … Aus biologisch evolutionärer Sicht“ hätten wir „allen Grund zu einem fröhlichen Optimismus“, so resümiert abwartend der Geophysiker Rudolf Treumann.

Eine bessere Quelle der Inspiration ist Albert Camus´ Die Pest, enthält doch der Roman eine Lektion bereit, wenn einer der Charaktere darin sagt: „Keiner auf der Welt, keiner, kann jemals immun sein“. Eine Erkenntnis über die natürliche Verletzlichkeit menschlichen Lebens, die für die gegenwartsfixierten Gesellschaften des Westens empfehlenswert ist. Denn: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie, das ist der Kern der alten „neuen Normalität“. Und Umweltschutz ist Menschenschutz – und Infektionsschutz!

Um sich in dieser Denkweise einzuüben, ist ein systemisch-holistisches Modell besonders geeignet: „The Natural Step“ (TNS). Es wurde im Auftrag der UNEP ab 1989 von einer Gruppe von Wissenschaftlern um Karl-Henrik Robèrt interdisziplinär entwickelt. Das Konzept definiert drei ökologische und fünf soziale Prinzipien für nachhaltige Entwicklung, um „die Verbindung zwischen menschlichem Geist und Biosphäre wiederherzustellen“ (Stockholm Resilience Centre). TNS definiert Nachhaltigkeit wie folgt: „Wir werden dem Gesamtsystem und den Bedürfnissen der heutigen Generation gerecht, ohne zukünftige Generationen zu gefährden“.

Das „Killervirus“ scheint Projektionsfläche für all die Ängste geworden zu sein, die unsere naturferne Gesellschaft befallen haben. Diesen Ängsten verleiht das Virus einen vagen Sinn. Sinnstiftend sollte aber neben TNS vielmehr einer der schlauesten Sätze in der Corona-Krise sein, der vom 78 Jahre alten Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble stammt: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen“. Diese sei unantastbar, schließe aber nicht aus, „dass wir sterben müssen“.

Porträt Dr. Götz-Dietrich Opitz
Dr. Götz-Dietrich Opitz

GÖTZ-DIETRICH OPITZ, Jahrgang 1964, Dr. phil. der Amerikanischen Kulturgeschichte (US-Forschungsaufenthalt in New York City 1994-95), ist PR-Experte, Publizist und Fundraiser. Derzeit arbeitet er für die Munich Fundraising School und engagiert sich für „The Natural Step Deutschland“ sowie für WSA Germany. An der Fresenius-Hochschule München hielt er im WS 2016/17 einen Lehrauftrag zum Thema „Journalismus und PR“ ab. 2001-02 arbeitete er als Programmdirektor beim internationalen Konferenzzentrum „Salzburg Global Seminar“. Nach seiner Tätigkeit als Wahlkampfsekretär für Otto Schily (MdB) 1990-91 arbeitete er in Washington, D.C. 1991-92 als Congressional Fellow für Hon. Charles B. Rangel im Repräsentantenhaus des US-Kongress. Er publizierte zahlreiche Artikel und Monographien, Interviews, Vorträge und Seminare. Seine Interessen reichen von Sport über Reisen bis hin zum Chorsingen (MiCS) und Komponieren.