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Rechts ist da, wo der Daumen links ist: Kritik in Zeiten von Corona

von Götz-Dietrich Opitz (c), 08.10.2020 (38.514 Zeichen)

„Klima und Corona“. So hieß der Titel eines Artikels, den ich Mitte März 2020 schrieb. Damals war man noch fast zwei Wochen entfernt vom Virus-bedingten Lockdown. Schon Anfang des Monats war für mich sehr auffällig, wie unterschiedlich ausgeprägt der Aktivismus war, „mit dem beide Krisen als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft werden“, wie ich darin beobachtete: „In der Tat konnte man in Deutschland selbst seit dem Erscheinen einer Greta Thunberg auf der Weltbühne bislang keine Bundespressekonferenz erleben, auf der die Kanzlerin gemeinsam mit der Bundesumweltministerin Svenja Schulze öffentlich zu Verzicht und Solidarität aufgerufen hätte, um das Klima zu retten. Zu diesem Zweck wurde auf Bundesebene bisher auch kein `Krisenstab´ eingerichtet“.

Ich bot den Artikel einigen Zeitungen und Zeitschriften an, aber keiner war interessiert. Wie ich von einer Bekannten erfuhr, die in einer der Zeitungen arbeitet, lag das daran, dass man nur Texte von „Journalisten“ nähme oder von „namhaften Experten“. Das war ich nun nicht. Zumindest hatte ich keine namhafte Institution im Rücken, die mir ein gewisses Standing verleihen würde. Doch damals ahnte ich noch nicht, dass es noch einen anderen Grund für die Absagen geben könnte. Schließlich entschied sich doch noch ein Internetportal dazu, ihn zu veröffentlichen. In der letzten Fassung wies ich auf die „drastischsten Schlagwörter des staatlich angeordneten Verzichts“ wie „Ausgangssperre“ hin – „mit allen rechtstaatlich bedenklichen Konsequenzen“. Für die schien sich aber erst recht keiner zu interessieren…

So rückte der Lockdown näher und damit eine Erfahrung, wie ich sie in meinem Heimatland noch nie machen musste: Die Leute um einen herum waren sehr gereizt, das Meinungsklima war äußerst angespannt, Angst machte sich breit. Sie war größer als rechtstaatliche Bedenken – Shutdown. Zuvor zirkulierten Grafiken und Videos von Kurven, die einen eindrücklich darüber belehren wollten, was „exponentielles Wachstum“ bedeutet. – Von dem der Bonner Virologe Hendrik Streeck Monate später in einem Interview am 29.09.20 behaupten sollte, dass es ihn hierzulande gar nicht gab: „Wir hatten bislang nie einen exponentiellen Anstieg“.

Wie sich die Verbreitung des Virus Sars-CoV-2 grafisch darstellen lässt, erfuhr ich durch ein Video vom 17.04.20, in dem Stefan Homburg die Grafik zur „effektiven Reproduktionszahl R“ des Robert-Koch-Instituts (RKI) interpretierte. Sie wurde ab Mitte April zur wichtigsten Orientierungsgröße staatlichen Handelns: „flatten the curve“. Die mittlerweile bekannte Zahl begann bereits ab dem 10. März abzuflachen. Am 21. März erreichte die Kurve den Wert 1, d.h. eine infizierte Person steckte im statistisch ermittelten Durchschnitt nur noch eine weitere Person an. „Flacher“ konnte die Infektionskurve kaum werden. Doch zwei Tage später wurde dennoch das „bundesweit umfangreiche Kontaktverbot“ (RKI) umgesetzt. Ich war überrascht bis entsetzt. Wieso soll denn der Lockdown überhaupt noch notwendig gewesen sein?

Ich leitete das Video an einige meiner Kontakte weiter, auch an die „Denkanstößigen“. Die Gruppe diskussionsfreudiger Privatleute traf sich seit Ende 2017 regelmäßig bei den gut 10 Teilnehmern zu Hause, um sich über vorher vereinbarte Themen auszutauschen. Doch Ende März traf man sich nicht, zu groß war die Sorge, dass man sich anstecken könnte. Der Lockdown verhinderte es dann ohnehin. Dass das äußerst angespannte Meinungsklima auch unsere Gruppe erreicht hatte, zeigte sich an den Reaktionen auf das Homburg-Video. Man wollte nicht glauben, was man da sah. So begann man zu recherchieren: „Ich habe schon ein bisschen was von Götz‘ Hausaufgaben gemacht und in Wikipedia recherchiert: `Die FAZ zählte Homburg 2013 während der Gründung der AfD zu deren Unterstützern`. Er ist gar kein Prof. für Statistik, sondern für Wirtschaftswissenschaften und arbeitet als Steuerberater“.

Man wähnte mich überführt. Doch es kam noch schlimmer: „Tja, Homburg und die AfD. Dazu passt, dass der AfD schon länger eine ungesunde Nähe zur Russischen Föderation nachgesagt wird, deren Trollfabriken schon länger daran arbeiten, den Westen zu schwächen und weiter zu destabilisieren. Dabei haben sie schon viel geschafft, wie zum Beispiel die Wahl von Donald Trump. Sie nutzen dazu nicht nur BOTs, sondern vor allem Menschen. Erklärtes Ziel ist es dabei, unsere demokratisch legitimierten Errungenschaften und Institutionen zu denunzieren sowie ihre Funktion, Wahrhaftigkeit und Leistungsfähigkeit in Frage zu stellen. Diesem Vorgehen hast du, lieber Götz, in diesem Fall das Wort geredet. Das Fernziel der russischen und übrigens auch der chinesischen Trollfabriken ist es, das Gift des Systemzweifels in die Herzen der Bürger zu säen und die Gesellschaft zu spalten“.

Das saß! Ich stand mit einem Schlag im Mittelpunkt einer weltweiten Verschwörung. Durch das bloße Weiterleiten eines Videos hatte ich mich schuldig gemacht. Zwischen den Zeilen fühlte ich mich als Faschist diffamiert, denn den mehrmaligen Wandlungsprozess, den die AfD von 2013 bis in die Gegenwart der Höcke-AfD durchgemacht hatte, thematisierte man nicht. Ein anderer in der Gruppe, der sich die R-Kurve nicht zu diskutieren traute, meinte: „Auch wenn ich wissenschaftlich-fachlich nichts beitragen könnte, sehe ich es persönlich als ausgesprochen kritisch und auch als verwerflich an, derzeit unsere SEHR um unser Wohl bemühten Politiker auch nur ansatzweise in ihrem Krisenmanagement zu kritisieren. Ich sehe zu viele Möchtegerne, die sich profilieren müssen – und das in wirklich schwierigen Zeiten, in denen wir noch mehr als sonst zusammenhalten sollten. Lasst uns bitte kontroverse Ansichten jederzeit diskutieren, aber bitte (Götz) nicht beleidigt sein“. War ich aber!

Es ging hier also nicht mehr nur um den Inhalt meiner Meinung, die man nicht teilen mochte. Nein, es ging jetzt vielmehr grundsätzlich darum, mir überhaupt das Recht abzusprechen, eine Meinung (diesbezüglich) haben zu dürfen: „Es ist verwerflich, Politiker zu kritisieren“. Unter diesen Umständen konnte ich dieser Diskussionsrunde nicht mehr angehören, das ging mir entschieden zu weit! War mein Weiterleiten des Homburg-Videos ursprünglich noch als bloßer Denkanstoß gedacht, so verfestigte sich dieser zu einer sachlich begründeten Meinung.

Monate später nahm ich Kontakt auf mit „Prof. Dr. Verschwörung“ (Bastian Brinkmann, SZ vom 14.05.20), alias Stefan Homburg, nachdem ich die Sendung mit ihm auf ServusTV „Corona: Wieviel Angst verträgt die Wirtschaft?“ vom 16.09.20 angeschaut hatte. Ich dürstete geradezu nach sachlich vorgetragenen Kontroversen, wie sie wenige Tage später ServusTV mit der Sendung „Das Corona-Quartett“ etablierte. Wenigstens einer! In meiner Nachricht an Homburg erwähnte ich beiläufig, dass er doch „zur Gründungsriege der AfD gehört“ habe. Seine Antwort folgte prompt: „Es ist eine Lüge, dass ich zur Gründungsriege der AfD gehört hätte, ich habe mich mein ganzes Leben lang von Parteimitgliedschaften ferngehalten. Aber wenn einem gegen meinen Punkt mit der R-Kurve nichts einfällt, muss man eben zu `Kontaktschuld´ greifen, wie es heute üblich ist“. In dem ServusTV-Interview hatte Homburg erwähnt, dass sein Porträt auf Wikipedia zu seinen Ungunsten abgeändert worden sei.

Im Zuge der Lockerungen war es nun wieder möglich, unter Auflagen zu demonstrieren. Es wurden im Netz vermehrt Demos angekündigt, auch in München. Ich entschied mich dazu, einmal hinzugehen und mir das anzuschauen. Auch weil ich meine kritische Haltung nach außen tragen wollte. Am 2. Mai wurde in München in der Altstadt an vier Orten demonstriert, an drei von ihnen war ich eine Zeit lang anwesend: am Max-Joseph-Platz und Odeonsplatz, ferner am Marienplatz. Viele trugen ein gedrucktes Exemplar des Grundgesetzes bei sich, einige von ihnen reckten es demonstrativ in die Luft. Vor allem auf dem Odeonsplatz hatte ich den Eindruck, in bester europäischer Tradition Zeuge einer griechischen Agora zu sein.

Hier entschlossen sich einige Teilnehmer spontan dazu, nacheinander auf dem Podium das Wort zu ergreifen, um ihre eigenen Ansichten und Gedanken – wie auch teils emotional dargebrachten Sorgen in Corona-Zeiten – zum Ausdruck zu bringen. Einer der Redner wandte sich an die Polizei vor der Feldherrenhalle und lobte sie für ihren Einsatz. Eine Apothekerin berichtete von ihrem Alltag und davon, wie die Maskenpflicht, die nichts nützen würde, sie im Gegenteil an der Arbeit hindere. Nicht mit allem, was dort gesagt wurde, stimmte ich überein. Doch eine solche Kontroverse muss eine Demokratie aushalten, dachte ich mir.

Am nächsten Tag las ich in der Münchner Tageszeitung tz über die Demonstration: Mir hatte sich aber ein völlig anderes Bild dargeboten als das hier vom tz-Reporter beschriebene. Es war, als ob er von einer anderen Demo berichtete. Einseitig benutzte er negativ besetzte Adjektive, um die Teilnehmer – also auch mich – pauschal zu verunglimpfen. So wurde die „teilweise aufgeladene Stimmung“ der „Corona-Demos“ als „feindselig“ und „aggressiv“ apostrophiert. Aber noch viel mehr fühlte ich mich von der Behauptung diffamiert, auf dem Max-Joseph-Platz hätten sich „Hunderte Verschwörungsideolog_innen“ gedrängt. Darüber hinaus habe man „auch mehrere AfD-Bundestagsabgeordnete aus Bayern“ gesichtet…

Nun also schon wieder: Ich wurde mit den Rechten in einen Topf geworfen. Obwohl ich nur meine begründete und berechtigte Kritik kundtun wollte, wurde quasi auch ich der „Kontaktschuld“ bezichtigt. Abgesehen von der Frage, wer sich auf dieser Demo, auf der keinerlei Reichskriegsflaggen oder ähnliches zu sehen waren, und folgenden Demos wem anschließt, fasste ich einen Entschluss: Wenn die Beobachtung stimmte, dass die AfD und andere Rechte tatsächlich versuchen würden, die Corona-Demos zu kapern, würde ich ihnen künftig fernbleiben. Ich erinnerte mich an einen Grundsatz aus meiner friedensbewegten Studentenzeit, wonach man nach Hause geht, wenn auf Demos Nazis mitlaufen.

Dann kam der 25. Mai, an dem George Floyd von Polizisten brutal ermordet wurde. Anfang Juni demonstrierte man deshalb in München, ich machte mit. Die mediale Berichterstattung war überwiegend positiv, was mich natürlich freute. Als alter Amerikanist schrieb ich einen weiteren Artikel, diesmal über Rassismus in den USA, und warnte mit Samuel P. Huntingtons Buch American Politics von 1981 angesichts eines Trends zur „Ablösung geschwächter und ineffektiver Institutionen durch autoritäre Strukturen“ vor „weißen reaktionären bis rechtsextremen Kräften im Trump-Lager“. Dieser Text kam viel besser an, drei verschiedene Fassungen unterschiedlicher Länge wurden veröffentlicht: auf dem Blog Kontrapunkte, in der Online-Ausgabe von Cicero und in der Zeitschrift Lettre international. Keiner hegte Zweifel an meiner demokratischen Gesinnung. Eine wohltuende Abwechslung!

Ganz abgesehen davon, dass zumindest bei den beiden letzten Medien ein Honorar winkte. Als jemand, der nicht wegen Corona arbeitssuchend geworden war, dessen Arbeitslosigkeit sich aber Corona-bedingt verlängerte, war ich natürlich auch darüber erfreut. Ich hatte also mehr Zeit – oder besser gesagt: Ich konnte mir meine Zeit freier einteilen. Und da mich das Thema Corona nicht mehr losließ, verfasste ich einen weiteren Artikel. Dies zumal trotz Lockerungen das Ausnahmerecht einer „epidemiologischen Notlage“ mit entsprechenden Grundrechtseinschränkungen immer noch anhielt. Außerdem war schon Wochen zuvor bekannt geworden, dass es beim Bundesinnenministerium (BMI) ein internes Strategiepapier zur Corona-Pandemie gab. Laut „Abgeordnetenwatch“ lag das Dokument zahlreichen Medien zwar vor, sie zitierten daraus aber nur auszugsweise – „veröffentlichen tun sie es nicht“.

Das BMI-Dokument plädiert dafür, im Rahmen einer „offenen Kommunikation“ Maßnahmen zu ergreifen, die den „worst case verdeutlichen“. Die „gewünschte Schockwirkung“ erreiche man zum Beispiel dadurch, dass man konkrete Auswirkungen schildert: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst… Kinder werden sich leicht anstecken… Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“

Egal, in welchem Ausmaß es in die Tat umgesetzt wurde, allein die Existenz des Papiers ist ein Skandal: Ich möchte als Bürger sachlich informiert werden, nicht manipuliert! Vor diesem Hintergrund fing ich also an zu schreiben. Ich konnte nicht mehr aufhören, so viele Gedanken hatten sich angestaut. Im Ergebnis brachte ich 28 Seiten zu Papier. Ich gab dem Artikel den Titel „Corona: Virus-Angst und ökologische Generationengerechtigkeit“. Über zwei Ecken bekam Staatsminister a.D. Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Lehrstuhl für Philosophie und politische Theorie an der LMU München, den Text in die Hände, der ihn „mit großem Interesse und viel Zustimmung“ las – selbstverständlich ein weiterer Grund zur Freude.

Der Artikel interpretiert die deutsche Corona-Politik verfassungsrechtlich fragwürdiger Maßnahmen, die unbeabsichtigt zu mehr Toten geführt haben könnten, als „Resultat einer wechselseitigen Eskalation der Angst“. Ich fand drei Gründe, die diese Eskalation möglich machten: die Überalterung der Gesellschaft in Folge des demografischen Wandels, die höhere Ängstlichkeit der älteren Generationen, die als „Risikogruppen“ weitaus mehr von Covid-19 betroffen sind als die Jungen, und generell eine wegen zunehmender Urbanisierung und Digitalisierung fortgeschrittene Entfremdung des Menschen von der Natur. Was das Thema Medien und Meinungsfreiheit angeht, kam meine Analyse zu folgenden Schlussfolgerungen:

In den vergangenen 50 Jahren, so stellte ich fest, habe sich die Verfasstheit der deutschen Öffentlichkeit stark gewandelt: „Seit der Einführung des Dualen Rundfunksystems in Deutschland 1984 ist der Wettbewerb um die Gunst des Publikums zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Fernsehen gestiegen. Das hat auch eine Eigenart in der vorherrschenden Redaktionskultur verstärkt, zählt doch der „Negativismus“ nach wie vor zu den wichtigsten Nachrichtenfaktoren. „Only bad news is good news“ und „If it bleeds it leads“ heißen die Leitsprüche, die im Auswahlverhalten von Journalisten den Nachrichtenwert von Themen bestimmen – und auch der Wortwahl.

So sticht in der „Aufmerksamkeitsökonomie“ (Georg Frank) der Corona-Krise der „Killervirus“ hervor. Attribute wie diese haben sicherlich das Unsicherheitsgefühl des Publikums erhöht. Auch so manche Grafik zum Infektionsgeschehen hatte diese Wirkung. So erschien beispielsweise in der Printausgabe der SZ vom 21.04.20, wie in vielen Ausgaben zuvor, eine Grafik, welche die Zahl der mit dem Sars-CoV2-Infizierten in Deutschland wiedergibt. Ihre orange-farbige Kurve verläuft extrem steil nach oben. Sie gibt an ihrem Höhepunkt die Gesamtzahl der Infizierten seit Ausbruch der Epidemie an, schließt also alle in der Vergangenheit Infizierten mit ein. Sie wird allerdings nicht mit den Genesenen und Todesfällen saldiert. Diese kumulierte Darstellungsweise vermittelte den Eindruck, die Epidemie habe noch lange nicht ihren Zenit erreicht – dies zu einem Zeitpunkt, als man über erste Lockerungen debattierte. In dieser Situation musste die Kurve auf viele Menschen Angst einflößend wirken. Wenige Tage später änderte die SZ die Grafik.

Unter den veränderten Bedingungen des Web 2.0 finden Ängste einen weiteren Verstärker. Das Social Web hat kommunikationstechnische Echokammern geschaffen, in der sich die Sehnsucht nach „menschlichen Gemeinschaften“ (Cluetrain Manifest 1999) widerspiegelt. In ihnen organisieren sich deterritorialisierte Kleingruppen in überschaubare Einheiten – wodurch die öffentliche Arena im Ganzen noch unübersichtlicher geworden ist. Das Paradox vielfältiger Filterblasen bestärkt aus der Sicht des einzelnen Users das Gefühl stabiler Sicherheit im virtuellen Raum und lässt „persönliche Öffentlichkeiten“ (Jan Schmidt) entstehen, die nicht nach gesamtgesellschaftlichen Relevanzkriterien strukturiert sind.

In der Corona-Krise begünstigte das Social Web, in deren sozialen Netzwerken die ansteckende Virus-Angst viral ging, die Entstehung von Verschwörungsideologien. Ihnen stand die Berichterstattung der klassischen Medien gegenüber, deren Beiträge laut einer „ehrlichen“ Stimme „durchaus klingen wie aus der Pressestelle von … Christian Drosten“ (Sonja Zekri 22.06.20). Trotz dieser journalistischen Selbstkritik schien so mancher „Faktencheck“ der klassischen Massenmedien in der „Sehnsucht nach wissenschaftlicher Eindeutigkeit“ begründet zu sein, die „seit Beginn der Pandemie zu einer merkwürdigen Praxis der Diffamierung geführt hat“ (Julian Nida-Rümelin 18.05.20). Die offizielle Corona-Politik, die gemeinsam mit den etablierten Medien eine eigene Riesen-Filterblase bildete, verbannte die wenigen Kritiker dieser Politik in die subalternen Untiefen des Social Web.

Ähnlich wie Nida-Rümelin beobachtete die Hochschule für Philosophie München eine durch „Solidaritätsappelle“ begleitete „Anrufung des starken Staats“, die in eine „Vielzahl von Ausschlüssen“ resultierte und „gesellschafts-kritische Stimmen in Misskredit“ gebracht hätte. Unter Rückgriff auf die Metapher von Hannah Arendt „Denken ohne Geländer“, in der eine antiautoritäre, „zutiefst demokratische“ Haltung zum Ausdruck käme, sei in der Absicht gesellschaftlicher Aushandlung und Gestaltung zu fragen, „welche unterschiedlichen Perspektiven auf die Pandemie existieren“. In dieser „Begegnung mit dem Denken anderer“ könnte „Kritik nicht als unsolidarisch abgewertet, sondern geradezu als Motor von Solidarität“ dienen (Alexander Heindl, Karolin-Sophie Stüber 16.04.20).

In dieser Krisenstimmung redeten Journalisten nicht mit den Abweichlern, sondern allenfalls über sie. Die Virus-Angst verleitete die – Corona-bedingt teils unter Kostendruck geratenen – klassischen Medien, ihre für die Demokratie unerlässliche Kritikfunktion als Publikative gegenüber der offiziellen Politik tendenziell zu vernachlässigen. Der Trend zur Diffamierung begünstigte die Entstehung der Corona-Verschwörungsmythen, da er dazu beitrug, auch die Integrationsfunktion der etablierten Medien zeitweise stark zu beeinträchtigen. So mahnte Stephan Hofmeister von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Mitte Mai 2020: „Wir … sollten möglichst alle zusammenwirken, dass sämtliche Verschwörungstheorien zu dem Thema entschärft und entkräftet werden, und die … Bürger sehr bald in Ruhe und Sachlichkeit mit dem Thema wieder umgehen können“.

Selbst wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung durch den Lockdown formal nicht außer Kraft gesetzt wurde, so litt sie zeitweise doch beträchtlich – unbeschadet der Tatsache, dass laut Werte-Index 2016 die Freiheit Platz 2 einnimmt. Unter dem konformistischen Druck der Virus-Angst, der das öffentliche Meinungsklima zunehmend verschlechterte, entwickelte sich im April 2020 spürbar eine gewisse „Tyrannei der Mehrheit“ (Alexis de Tocqueville). Nach den ersten Lockerungen entlud sich dieser Druck hauptsächlich auf den „Hygiene-Demos“ beunruhigter Bürger, die um ihre Grundrechte fürchteten.

Der Denkanstoß von Bundespräsident Steinmeier, „Kritik ist nicht reserviert für coronafreie Zeiten“, wie er ihn in einem SZ-Gastbeitrag am 22. Mai 2020 äußerte, kam zu spät, um dies zu verhindern. Die Literaturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld beobachtete zusammenfassend: „Diejenigen, die Kritik ausübten oder laut darüber nachdachten, ob es auch Alternativen zu der von Regierungen oder bestimmten Instituten präferierten Anti-Corona-Strategie geben könnte, wurden von Anfang an nicht nur von den Medien und der Regierung ausgegrenzt, sondern begegneten in sozialen Medien der empörten und sogar sich schon fast angeekelt zeigenden, vermeintlich moralisch überlegenen Meinungs-Mehrheit“.

Angesichts der vermehrten Versuche der AfD, aus der empörten Frustration auf den „Hygiene-Demos“ politisches Kapital zu schlagen, war es jedoch erfreulich zu beobachten, dass sich die überwiegende Mehrheit der Protestierenden in ihrer Kritik an der Corona-Politik auf das Grundgesetz berief und nicht auf eine etwaige völkische Essenz deutscher Kultur, die durch den Lockdown verraten worden sei. Selbst viele „Verschwörungstheoretiker“ taten dies – in der Praxis eine Art konspirativ gelebter „Verfassungspatriotismus“ (Jürgen Habermas). In einer VUCA-Welt, die hohe Ambiguitätstoleranz erforderlich macht, waren sie ebenfalls angetrieben von der alten Sehnsucht nach eindeutiger Erklärbarkeit.“

Meine Analyse fand Bestätigung durch zwei wissenschaftliche Studien. Die erste vom Schweizer Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) befasste sich mit der „Qualität der Berichterstattung zur Corona-Pandemie“. Ihr zufolge „haben die Medien geholfen, den Lockdown kommunikativ vorzubereiten“. Eine „systematische Auseinandersetzung mit der drastischsten Maßnahme … findet in den untersuchten Medienbeiträgen nur am Rande statt.“ Laut Heribert Prantl deckt sich die fög-Studie mit dem Befund des Journalistik-Professors Klaus Meier von der katholischen Universität in Eichstätt, der im April resümierte: „zu wenig Einordnung, zu wenig Recherche, zu behördennah.“

Die zweite Studie wurde an der Universität Passau von den beiden Medienforschern Dennis Gräf und Martin Hennig durchgeführt. Sie untersuchten mehr als 90 Sendungen von ARD Extra und ZDF-Spezial. Ihr Fazit: Schon die Häufigkeit der Sondersendungen vermittle ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario, in dem massenmedialen „Tunnelblick“ werde nicht genügend differenziert. „Sondersendungen wurden zum Normalfall und gesellschaftlich relevante Themen jenseits von Covid-19 ausgeblendet“, so fasste Gräf zusammen. Der fög-Studie zufolge umfasste von Mitte März bis Ende April der tägliche Anteil journalistischer Beiträge mit Bezug zu Covid-19 etwa 20-50% der gesamten Berichterstattung. Prantls Schlussfolgerung: „Der Journalismus wird sich mit solchen Studien und Analysen befassen müssen … Die Presse ist nicht Lautsprecher der Virologie, sondern der Demokratie.“

Etwa drei Wochen saß ich wie gebannt an den 28 Seiten, die Katharsis tat gut. Mitte Juli war ich fertig… Auch wenn ich schon ahnte, dass es schwierig werden würde, wenn ich mich dazu entschließen sollte, den Text zu veröffentlichen. Ich entschloss mich dazu, wo nun schon mal der Text geschrieben war. Bei einigen Organen klopfte ich an, erwartungsgemäß gab es Absagen. Doch dann interessierte sich eine renommierte Zeitschrift in Stuttgart für das lange Manuskript. Eine gekürzte Fassung, so versicherte mir der Herausgeber, können er gerne an das Redaktionsteam weiterleiten, der Text habe „gute Chancen für eine Veröffentlichung“.

Den Schwerpunkt sollte auf dem Aspekt der Naturentfremdung liegen. Ich reichte also eine solche Version ein. Darin führte ich den Begriff der „covideologischen Virokratie“ ein – und untermauerte ihn durch Informationen eines Experten, auf den mich die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag aufmerksam gemacht hatte: „Die `Blankovollmacht´ des Bundesministeriums für Gesundheit, die mit dem `verfassungsrechtlich hochgradig problematischen Ausnahmerecht´ einer `epidemischen Notlage´ geschaffen worden ist, umfasst dem Staatsrechtler Thorsten Kingreen zufolge `weit mehr als 1.000 Vorschriften´ – eine Exekutive im `Panikmodus´ (Andreas Gassen, KBV).“ Doch mein Hauptanliegen in dieser Fassung war es, auf den Zusammenhang zwischen Öko- und Corona-Krise hinzuweisen: „Dass Corona Folge der Öko-Krise ist, ist auch Kanzlerin Merkel bewusst.“

Ende September schickte mir der Herausgeber ein Zwischenergebnis der redaktionellen Beratungen: „insgesamt ambivalent“. Man sei eine psychologische Zeitschrift, „aber keine politische“ und auch „keine parteiliche“. In der Redaktion gäbe es zwar „unterschiedliche Einstellungen zur Corona-Thematik, aber wir möchten einheitlich keinen Artikel nehmen, der sie irgendwie verharmlost oder einen eher `rechts orientierten´ Standpunkt vermuten lässt.“ Das Urteil war kein abschließendes, man wolle „das noch weiter besprechen“.

Nun wurde ich schon zum dritten Mal in die rechte Schublade gesteckt… – Wenn ich die Person in meinem entfernten Verwandtenkreis nicht dazuzähle, die mich angesichts meiner Corona-Argumentation mit Donald Trump in Verbindung gebracht hatte – eine Beleidigung. Gleichzeitig erschien mein Amerika-Artikel in Lettre international. Ich verstand die Welt nicht mehr! Ich war innerlich so aufgewühlt, dass ich gleich drei Emails an den Herausgeber schickte. Ich erklärte, es habe mich „überrascht“, als „rechts orientiert“ bewertet zu werden: „Und lassen Sie es mich bitte noch deutlicher sagen: Ich bin schon fast gekränkt, so eingestuft zu werden.“ Das zu erwähnen, so betonte ich, sei geradezu „eine Frage der Ehre“ für mich.

Bilder aus meiner Kindheit in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus schossen mir ins Bewusstsein, wie schon im April. Im Mai 1977 beispielsweise nahm mich mein Vater mit auf einen Kongress zum Thema Sozialpolitik in Darmstadt, zwei prominente Redner gab es: Willy Brandt und Olof Palme. Am Abend aß man mit dem OB der Stadt am kalten Buffet, wir durften daran teilnehmen. Der Höhepunkt: Ich saß als 13-Jähriger auf dem Schoß von Willy und Olof, beide gratulierten mir herzlich zum Geburtstag. So ein Erlebnis prägt! Prägend war auch mein erster Job nach dem Studium: Ich durfte an der Seite von Otto Schily als dessen Wahlkampfsekretär die erste Bundestagswahl im vereinten Deutschland erleben. Mit dieser Referenz kam ich als „Congessional Fellow“ ins US-Repräsentantenhaus, um dort für den liberalen, schwarzen Abgeordneten Charles B. Rangel zu arbeiten. Ist das alles „rechts“?

Vielleicht bewog mich diese Vita im Hintergrund dazu, Kontakt zu den Fraktionen im Deutschen Bundestag aufzunehmen. Auslöser war aber, dass ich aus der SZ vom 01.09.20 vom Offenen Brief „Corona-Krise aufarbeiten und für die Zukunft lernen“ erfahren hatte. – Auch ich forderte ja in meinem Corona-Artikel „eine ehrliche Aufarbeitung der Krise.“ Die Organisationen BUND, Bund der Steuerzahler, Foodwatch und Mehr Demokratie wandten sich mit dem Brief an die Fraktionsvorsitzenden. Unabhängig von und ohne Absprache mit diesen wandte ich mich Mitte September nun selber an die Fraktionen, um ihnen „als besorgter Bürger und Vater zweier Kinder“ meinen Corona-Artikel zur Kenntnis zu bringen.

Ich erklärte in meiner Email, der Artikel könnte „einen Beitrag dafür leisten, aus der Corona-Krise zu lernen, um – ganz im Sinne der oben genannten Initiative – als Gesellschaft krisenfester aus den vergangenen sechs Monaten hervorzugehen.“ Ein „gemeinsames, konstruktives und erfolgreiches Bilanzziehen“ könne dazu beitragen, „auch gerade Verschwörungsideologien im Keim zu ersticken“. Hintergrund meiner Privatinitiative war auch der, dass in der Corona-Krise die unzählig zitierte „Stunde der Exekutive“ schlug.

Aus diesem Anlass gab der ehemalige Bundeserfassungsrichter Hans-Jürgen Papier am 06.06.20 einen Überblick über den verfassungsrechtlichen Rahmen (Steingart, Der achte Tag #50): Einer rechtsstaatlichen Demokratie entspreche es an sich, „dass alle wesentlichen Entscheidungen, insbesondere zur Ausübung der Grundrechte, von den gewählten Parlamenten getroffen werden“. Seit Beginn der epidemischen Notlage seien aber „die Parlamente in Bund und Ländern mehr oder weniger an den Rand gedrängt“ worden, so der Staatsrechtler. So hört man aktuell in dem immer noch vorherrschenden Meinungsklima in der Tat reichlich wenig Kritik der Opposition. Wenn sie dazu den Mut hat, dann überwiegend innerhalb der von der Großen Koalition (Groko) als Exekutive gesetzten Krisenparameter.

Wie soll da ein gesundes und ausgewogenes Meinungsklima entstehen? Über die staatsnahe Funktion der Medien haben wir ja schon gesprochen… Wer noch am selben Tag auf meine Email vom 15.09.20 antwortete, war die Fraktion DIE LINKE: „Schon Ende April hatten wir Forderungen aufgestellt, die nun vom Verbände-Quartett aufgegriffen worden sind. Wir hätten uns gern auch ein Gremium gewünscht, das wissenschaftsübergreifend tägliche oder zweitägliche Lageberichte abgibt. Zudem fordern wir ein Gremium, dass uns die Maßnahmen, gern auch einzeln, evaluiert.“ Die Antwort gefiel mir – nicht nur, weil sie schnell war.

Schnell war auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie teilte auch am selben Tag mit, dass man mein „Schreiben an die fachlich Zuständigen in unserer Fraktion zur Kenntnis weitergeleitet“ habe: „So können eventuell neue und wichtige Argumente in unsere Diskussion einbezogen werden“, hieß es. Meine Nachfrage, ob das auch heißt, „dass ich eine Antwort von den fachlich Zuständigen erhalte“, blieb bisher unbeantwortet. Die CDU/CSU-Fraktion antwortete erst am 24.09.20. Und vermutlich nur deshalb, weil ich zwei Tage zuvor eine Email zur Erinnerung an die drei säumigen Fraktionen – die AfD hatte ich ja nicht angeschrieben – verschickt hatte; darin der Verweis auf Prof. Nida-Rümelin (siehe oben).

Die CDU/CSU-Fraktion wies mich auf eine Anhörung des Gesundheitsausschusses als Teil der Parlamentsdebatte und damit auf die obige Stellungnahme des Staatsrechtlers Thorsten Kingreen hin; eine wichtige Info, die mich natürlich freute. Zuletzt erfolgte am 29.09.20 die Antwort der SPD: „Ihr Artikel wurde der zuständigen Arbeitsgruppe unserer Fraktion übergeben mit der Bitte um Kenntnis- und ggf. Stellungnahme sowie Berücksichtigung Ihrer Überlegungen bei der weiteren parlamentarischen Arbeit.“ Man brauchte also zwei Wochen länger mit einer Antwort, wenn man sie mit derjenigen der DIE LINKE vergleicht. Aber ich freue mich natürlich über jede Antwort. Es fühlt sich gut an, als kritische Stimme überhaupt wahrgenommen zu werden. Auch stuften die Fraktionen mich nicht gleich als „rechts“ ein.

Doch dann folgte am 30.09.20 die Generaldebatte im Deutschen Bundestag, am nächsten Tag las ich in der SZ darüber. Dieser Filter vermittelte mir insgesamt den Eindruck, die Opposition finde allmählich zu ihrer Aufgabe zurück. Am weitesten ging wohl FDP-Chef Christian Lindner: Er forderte die Aufhebung der „epidemiologischen Notlage“, da diese derzeit nicht mehr zu rechtfertigen sei. Außerdem fehle eine nationale Teststrategie. Dietmar Bartsch betonte, dass die Linke bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie weiteren Grundrechtseinschränkungen „mit großer Zurückhaltung“ entgegenstehen werde. Aber warum nur „weitere“? Unsere Grundrechte sind bereits und immer noch eingeschränkt!

Es schien, als hätte Kanzlerin Merkel meine Frage vorweggenommen, indem sie mahnte: „Wir riskieren momentan alles, was wir in den letzten Monaten erreicht haben“, wenn jetzt wieder „die Infektionszahlen steigen“. Ihre Warnung erinnerte mich entfernt an das BMI-Papier (siehe „Urangst“ oben). War es in abgeschwächter Form immer noch im Einsatz? Wurde es überhaupt jemals im Bundestag thematisiert oder gar kritisiert? Mir ist nichts bekannt. In diese Richtung konnte man noch – und es fällt mir sehr schwer, dies zu sagen – den Aufruf von Alice Weidel verstehen, wenn sie sagte: „Hören Sie auf, Panik zu schüren“.

Ach herrje, bin ich jetzt ein Rechter, wenn ich als aufrechter Demokrat in diesem einen Punkt Verständnis für die AfD-Fraktionsvorsitzende aufbringe? Diese Gedanken teilte ich meinem Ansprechpartner bei der LINKEN-Fraktion mit – jetzt antwortete er aber nicht mehr… Eine gute Freundin hat es zu Beginn der Corona-Krise so auf den Punkt gebracht: „Wenn Höcke sagt, morgen geht die Sonne auf, soll ich da widersprechen?“ Mir persönlich wäre es viel lieber gewesen, Weidels Worte von den anderen Oppositionsparteien zu hören! Es kommt eben immer darauf an, wie man solch einen Aufruf rechtfertigt. Hier der Unterschied: Meine Kritik an der Corona-Politik ist sachlich begründet, sie kann sich auf wissenschaftliche Studien und Meinungen berufen, sie beruht letztlich auf unserem vorbildlichen Grundgesetz.

Meine Kritik und die vieler anderer Skeptiker ist Teil der „Urteilskraft der Bürgerschaft“. Das „Ziel der umfassenden Rationalität politischer Praxis“, so Nida-Rümelin (18.05.20), macht diese neben „wissenschaftlicher Expertise“ erforderlich. Diese Urteilskraft wird durch die demokratische Weisheit, „Wir sind uns einig, dass wir uns uneinig sind“, gestärkt und geschärft, die in der angelsächsischen Tradition die Grundlage des demokratischen Streits ist. Das Paradox bildet das Fundament dafür, dass wir darauf vertrauen dürfen, uns gegenseitig konstruktiv zu misstrauen. – Nur traue ich der AfD grundsätzlich nicht.

Ihre Kritik an der Corona-Politik ist – das muss man dieser Partei unterstellen, zuletzt wegen der Äußerungen des Fraktionssprechers Christian Lüth – instrumentell und taktisch motiviert, sie zielt letztlich gegen das Grundgesetz. So viel Differenzierungsvermögen muss sein. Nun ist es leider so, dass es die Groko und die AfD unabhängig voneinander geschafft haben, ein Meinungsklima zu schaffen, in dem jegliche Kritik an den offiziellen Corona-Maßnahmen, sei sie auch noch so sachlich begründet und wissenschaftlich fundiert, als „rechts“ diffamiert wird. Von diesem Klima ist auch die Opposition betroffen. Die Strategie der AfD in diesem Machtspiel ist indes klar. Doch warum spielt die Groko mit? Hier ein Erklärungsversuch:

Schon spätestens im Mai machten sich Politiker, Medien und Politikwissenschaft besorgt Gedanken über die Ähnlichkeit der Corona-Proteste mit denjenigen der – Pegida. Der Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden, Werner Patzelt, versuchte sich Anfang Juni in einer Analyse beider Bewegungen. Unterschiedlich sei die soziale Zusammensetzung: „Damals nur Leute aus dem Spektrum rechts der Mitte, mit dann immer stärkerer Präsenz von Rechtsradikalen – heute auch viele Leute, die man bislang eher auf von Linken organisierten Veranstaltungen sah.“

War diese Beobachtung noch um Differenzierung bemüht, warnte Markus Söder auf dem CSU-Parteitag im Herbst pauschal vor einer „Corona-Pegida“ (Spiegel 26.09.20). Während für die SPD-Vorsitzende Saskia Esken noch im August alle Corona-Demonstranten einfach nur „Covidioten“ waren, war für Münchens OB Dieter Reiter Anfang Oktober die Corona-Pandemie sogar gefährlicher als einst Pegida. Die Symbole von Rechtsextremisten seien auf den Corona-Demos offen sichtbar: „Da kann mir niemand erzählen, dass er seinen Protest ausgerechnet dort ausleben muss“ (SZ 05.10.20). Das stimmt einerseits – aber wo sonst?

In der „covideologischen Virokratie“ gibt es kaum Alternativen zu den Demos, um seine kritische Meinung zu äußern. Wenn die klassischen Medien und die Opposition beherzter zu ihrer Aufgabe mutiger Kritik zurückfinden würden, wären wir da einen großen Schritt weiter. Denn über die gesetzten Krisenparameter hinaus gibt es viele Ansatzpunkte für konstruktive Kritik. Hier nur ein Beispiel: Meint Lindner, wenn er eine nationale Teststrategie fordert, auch die Schwächen der hochempfindlichen Methode der „Polymerase-Kettenreaktion“ (PCR)? Selbst Virologe Christian Drosten hat diese Schwächen noch vor sechs Jahren angesichts steigender Mers-Virus-Testungen offen angesprochen, als er von einer „Explosion der Fallzahlen“ sprach: „Wo zuvor Todkranke gemeldet wurden, sind nun plötzlich milde Fälle und Menschen, die eigentlich kerngesund sind, in der Meldestatistik enthalten. … Dazu kommt, dass die Medien vor Ort die Sache unglaublich hoch gekocht haben.“

Doch stattdessen sich Medien und Opposition auf das Für und Wider flächendeckender PCR-Tests stürzen, fallen rechtsgerichtete Zeitschriften in das so entstandene Vakuum: So titelte in Österreich „Das Magazin für Patrioten“ Info-DIREKT: „Altes Interview aufgetaucht: Drosten hielt PCR Tests für untauglich“ und führt aus: „Ein Interview in der Wirtschaftswoche aus dem Jahr 2014 lässt momentan viele Menschen staunen. Darin erklärte der heute vor allem in Deutschland gehypte Virologe Christian Drosten, dass der PCR-Test für Massentestungen nicht wirklich geeignet ist. Er beschreibt, wie es damit zu völlig unpassenden Positiv-Ergebnissen kommen kann. Die Medizin wäre eben `nicht frei von Modewellen´“ (02.10.20).

In der Online-Ausgabe des Magazins findet sich unter dem Teaser dieses Artikels der Verweis auf einen anderen, der freilich Aufschluss über seine politische Gesinnung gibt: „`Black Lives Matter´& Co. stoppen: Nein zur Kulturrevolution“. Der Artikel vom 17.08.20 führt aus: „Nach der Klima-Hysterie und dem Corona-Wahnsinn kann auch der `Black Lives Matter´-Irrsinn als globaler Angriff auf unsere Kultur eingestuft werden. Deshalb beschäftigen wir uns in der 33. Info-DIREKT-Printausgabe schwerpunktmäßig“ mit diesem Thema. Nach eigenen Angaben legt das Magazin in seiner Medienarbeit besonderen Wert auf „nonkonforme Perspektiven und Sichtweisen“. Ja, genau: Das ist sicherlich ein „nonkonformer Irrsinn“.

Im Mai 2019 besprach die FAZ die Allensbach-Studie „Über Meinungsfreiheit und kritische Themen“. Sie zeigte auf, dass es „immer mehr Tabuthemen“ gebe: „Der Raum für die Meinungsfreiheit wird kleiner, so sieht es eine Mehrheit der Bürger. In einer Allensbach-Umfrage äußern fast zwei Drittel der Befragten das Gefühl, man müsse im öffentlichen Raum `sehr aufpassen`, was man sagt“ (23.05.19). Der „Appell für freie Debattenräume“ (idw-europe.org) greift diesen Befund auf: „Seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert“. Es scheint, als habe sich der Meinungskorridor in Corona-Zeiten noch weiter verengt, der Satiriker Dieter Nuhr gehört zu den Unterzeichnern.

Initiator des Appells ist u.a. Gunnar Kaiser: Das zeigt, wie verwirrend schwierig es geworden ist, im Zeitalter des Web 2.0 Autorenschaft richtig einzuschätzen. Denn Kaiser, der Gründer von „KaiserTV“, ist dem Portal „Universalistische Aktion“ zufolge im Gegensatz zu anderen „rechtsextremen, autoritären und neonazistischen Strukturen auf Youtube“ nicht sofort „als rechtsradikal zu erkennen“… Umso wichtiger, dass klassische Medien und Opposition als „kommunikativ Handelnde“ zu einem – im Rahmen des Grundgesetzes – kritischen und offenen „Diskurs“ (Habermas) zurückfinden. Strengen wir uns an, und hoffen wir das Beste!

Porträt Dr. Götz-Dietrich Opitz
Dr. Götz-Dietrich Opitz

GÖTZ-DIETRICH OPITZ, Jahrgang 1964, Dr. phil. der Amerikanischen Kulturgeschichte (US-Forschungsaufenthalt in New York City 1994-95), ist PR-Experte, Publizist und Fundraiser. Derzeit arbeitet er für die Munich Fundraising School und engagiert sich für „The Natural Step Deutschland“ sowie für WSA Germany. An der Fresenius-Hochschule München hielt er im WS 2016/17 einen Lehrauftrag zum Thema „Journalismus und PR“ ab. 2001-02 arbeitete er als Programmdirektor beim internationalen Konferenzzentrum „Salzburg Global Seminar“. Nach seiner Tätigkeit als Wahlkampfsekretär für Otto Schily (MdB) 1990-91 arbeitete er in Washington, D.C. 1991-92 als Congressional Fellow für Hon. Charles B. Rangel im Repräsentantenhaus des US-Kongress. Er publizierte zahlreiche Artikel und Monographien, Interviews, Vorträge und Seminare. Seine Interessen reichen von Sport über Reisen bis hin zum Chorsingen (MiCS) und Komponieren.