Leserbrief: SZ-Graphik auf S.1, eingebettet in „Streit um Konjunkturhilfen entbrennt“
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe SZ-Redaktion,
in der Printausgabe der Süddeutschen vom Di 21.04.20 erschien, wie in vielen vorherigen Ausgaben der vergangenen Wochen auch, eine Grafik, die die Zahl der mit dem Corona-Virus Infizierten wiedergibt. Ihre orange-farbige Kurve verläuft extrem steil nach oben.
Die Kurve gibt an ihrem Höhepunkt die Gesamtzahl der in Deutschland Infizierten seit Ausbruch der Epidemie an, schließt also alle in der Vergangenheit Infizierten mit ein. Darüber hinaus wird sie nicht mit den Genesenen und den Todesfällen saldiert.
Diese kumulierte Darstellungsweise vermittelt den Eindruck, die Epidemie habe noch lange nicht ihren Zenit erreicht. In dieser Eigenschaft kann sie aber auf viele Menschen Besorgnis erregend und Angst einflößend wirken.
Die Grafik trägt daher m.E. zu einer Stimmung in unserem Land bei, die ich aus eigener persönlicher Erfahrung zum Teil als hysterisch bezeichnen muss! Eine solche Grafik trägt nicht zur Versachlichung der Vorgänge bei. Den gleichen Sachverhalt könnte man für viele andere existierende Krankheiten wie Krebs darstellen, ist also nichts Corona-Spezifisches.
Im SZ Espresso weist die Redaktion indes unter „Daten zur Pandemie“ darauf hin, dass „bis vor kurzem an dieser Stelle, neben vielen anderen Daten zum Verlauf der Corona-Pandemie, die sogenannte Verdoppelungszeit angegeben“ worden sei. Diese sei „gut geeignet, um exponentielle Wachstumsprozesse zu beschreiben“. Derzeit ließe „sich aber in Deutschland und in vielen anderen Ländern keine exponentielle Ausbreitung des Coronavirus feststellen“.
Das ist richtig! Weshalb Sie fortfahren, dass „in Deutschland das Wachstum derzeit näherungsweise linear, die Zahl der Neuinfektionen pro Tag in etwa konstant“ sei. Dass dies „eine gute Nachricht“ sei, ist absolut zu bejahen und stimmt optimistisch.
Folgerichtig sollte aber m.E. die SZ darauf verzichten, mit der oben beschriebenen Kurve unbeabsichtigt zu einem vorherrschenden Meinungsklima beizutragen, das immer noch von Angst, Nervosität und großer Unsicherheit geprägt ist. Ein Klima, unter dem die freie Meinungsäußerung meiner Erfahrung nach massiv leidet.
Vielmehr sollte die Spalte „Trend“ in der Online-Grafik hervorgehoben werden. Sie zeigt, dass die Zahl der Fälle nur in drei von 16 Bundesländern nach oben weist, in denen ohnehin nur sehr wenige Fälle bestätigt sind. In den Ländern, die die höchsten Zahlen ausweisen (Bayern, NRW etc.) weist der Pfeil in der SZ-Grafik gar nach unten.
Unter „Daten zur Pandemie“ fährt die SZ-Redaktion fort, dass die oben zitierte „gute Nachricht“ darauf hindeute, „dass die getroffenen Maßnahmen ihre Wirkung zeigen“. Daran kann man jedoch begründbare Zweifel hegen. Denn statistisch gesehen, sollte man hier vorsichtshalber erst einmal von Korrelationen sprechen, anstatt nachgewiesene Kausalzusammenhänge zu implizieren.
So legt das vom Robert Koch Institut (RKI) auf seiner Internetseite am 15. April 2020 veröffentlichte Dokument mit dem Titel „Schätzung der aktuellen Entwicklung der SARS-CoV-2- Epidemie in Deutschland – Nowcasting“ in einer Grafik zur „effektiven Reproduktionszahl R“ (oder Ansteckungszahl) auf Seite 5 dar, dass diese Kurve bereits ab dem 10. März 2020 sich abzuflachen begann. Damals erreichte die Kurve einen Wert von über 3, d.h. eine infizierte Person infizierte im statistisch ermittelten Durchschnitt über drei weitere Personen. Am 21. März erreichte die Kurve den Wert 1, seitdem bewegt sie sich schwach oszillierend auf diesem niedrigen Niveau.
Doch erst zwei Tage später wurden ab 23. März die Maßnahmen zum so genannten Lockdown (RKI: „Bundesweit umfangreiches Kontaktverbot“) umgesetzt, über deren Lockerungen man nun diskutiert. Diese Maßnahmen können also im zeitlichen Verlauf nicht ursächlich für den Rückgang der Reproduktionsrate sein. Wenn „getroffene Maßnahmen ihre Wirkung“ (SZ) gezeigt haben, dann die am 9. März erfolgte „Absage großer Veranstaltungen in verschiedenen Bundesländern bei über 1.000 Teilnehmer“ (RKI), also ein Tag vor dem vom RKI ausgewiesenem Höhepunkt der Reproduktionskurve; ferner die „Bund-Länder-Vereinbarung zu Leitlinien gegen die Ausbreitung des Coronavirus“ (RKI) vom 16. März.
Der Vollständigkeit halber sollte dies in der Berichterstattung eines allseits hoch geschätzten Mediums des Qualitäts-Journalismus wie der Süddeutschen Zeitung Erwähnung finden.
Mit freundlichen Grüßen
Götz-Dietrich Opitz
, Jahrgang 1964, Dr. phil. der Amerikanischen Kulturgeschichte (US-Forschungsaufenthalt in New York City 1994-95), ist PR-Experte, Publizist und Fundraiser. Derzeit arbeitet er für die Munich Fundraising School und engagiert sich für „The Natural Step Deutschland“ sowie für WSA Germany. An der Fresenius-Hochschule München hielt er im WS 2016/17 einen Lehrauftrag zum Thema „Journalismus und PR“ ab. 2001-02 arbeitete er als Programmdirektor beim internationalen Konferenzzentrum „Salzburg Global Seminar“. Nach seiner Tätigkeit als Wahlkampfsekretär für Otto Schily (MdB) 1990-91 arbeitete er in Washington, D.C. 1991-92 als Congressional Fellow für Hon. Charles B. Rangel im Repräsentantenhaus des US-Kongress. Er publizierte zahlreiche Artikel und Monographien, Interviews, Vorträge und Seminare. Seine Interessen reichen von Sport über Reisen bis hin zum Chorsingen (MiCS) und Komponieren.