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Leserbrief: SZ-Faktencheck vom 19.05.2020

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe SZ-Redaktion,

in der Online-Ausgabe der Süddeutschen vom Di 19.05.20 unterzog die SZ-Wissensredaktion den „verbreitetsten Aussagen der Skeptiker“ in der Corona-Krise einen „Faktencheck“. Dieser reiht 10 „unwahre Behauptungen vermeintlicher Experten“ über die von Bund und Ländern getroffenen „Infektionsschutzmaßnahmen“ auf. Darunter befänden sich „Lügen, unzulässige Verkürzungen und Simplifizierungen, falsche Schlussfolgerungen aus richtigen Tatsachen – und manchmal wohl auch nur Missverständnisse“. Die SZ erhebt den Anspruch, diese mit „wissenschaftlich belegten“ „Fakten“ zu „entlarven“.

Laut Duden bedeutet entlarven „die Maske wegnehmen“, um die „wahren Absichten, den wahren Charakter einer Person oder Sache aufzudecken“. So demaskiert die SZ „die gröbsten Lügen und Missverständnisse“ in einer manichäischen Grenzziehung, die sie auch grafisch mit einem „FALSCH“-Stempel untermauert. Dieser geht über die einzelne Behauptung darnieder, sobald der Leser sie zum Aufrollen anklickt: Debatte beendet, Akte geschlossen!

Der SZ-Faktencheck ist m.E. ein Beispiel dafür, wie die „Sehnsucht nach wissenschaftlicher Eindeutigkeit“, so Julian Nida-Rümelin in der WELT vom 18.05.20, „seit Beginn der Pandemie zu einer merkwürdigen Praxis der Diffamierung geführt hat“. Nida-Rümelin, Philosoph und Mathematiker, wurde unlängst von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in den Ethikrat der Bundesregierung berufen… Hier also die SZ im Besitz wahrer „Fakten“, dort die entlarvten „Lügner“, die allesamt ungenannt bleiben.

Vermutlich stimmen viele SZ-Leser darin überein, dass einige der behandelten Behauptungen zu den Verschwörungsmythen gezählt werden müssen; wie diejenige, dass „hinter allen Maßnahmen Bill Gates“ stehe (Nr. 8), „eines der großen Feindbilder in der Corona-Mythologie“, so die SZ. Die berechtigte Kritik an dem schwierig zu messenden Einfluss einer demokratisch nicht legitimierten Privatperson, den der „Microsoft-Gründer und Selfmade-Multimilliardär“ mit seinen Zuwendungen auf die WHO ausübt, thematisiert die SZ, denn die Spenden „geben der WHO aufgrund der Zweckbindung zweifelsohne eine Richtung vor“. Die finanziellen Verstrickungen von Gates analysieren aber nicht nur kritische Stimmen wie Sarah Wagenknecht – ohne zu glauben, Gates wolle „Menschen bei der Impfung einen Chip einpflanzen lassen“ (SZ), sondern auch Verschwörungstheoretiker. Ist das dann „Lüge“?

Doch betrachten wir Behauptung 3: „Die Krankheitswelle ebbte schon vor Beginn der Schutzmaßnahmen ab“. Festzuhalten ist hier, dass es den einen „Beginn“ nie gab, da sich die deutsche Corona-Politik aus vielen einzelnen Maßnahmen, die von Bund und Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten getroffen wurden, zusammensetzt. Diese undifferenziert verdichtete Aussage, wenn sie denn jemals so behauptet wurde, analysiert SZ-Journalistin Berit Uhlmann, wozu sie den „berühmten R-Wert“ des RKI diskutiert. Diesen brachte der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg zu medialer Prominenz – in einem Video-Interview, das viral ging und schließlich auch im ZDF-Morgenmagazin besprochen wurde.

Kritiker wie er äußerten jedoch die „Behauptung 3“ nicht so wie oben formuliert, vor allem nicht im Hinblick auf die zeitliche Einordnung „vor Beginn [aller] Schutzmaßnahmen“. Laut SZ sei aber „die Sache für Kritiker einfach“, behaupteten sie doch, der R-Wert sei schon vor dem Lockdown am 22. März „leicht unter die Marke von 1“ gesunken. Die SZ stimmt dem auch zu, die R-Kurve des RKI ist in der zeitlichen Abfolge nicht anders zu interpretieren: Der Boden, in anderen Worten, wird nass, nachdem es regnet, nicht umgekehrt; um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man kein studierter Statistiker sein. Die „Einschränkung des öffentlichen Lebens“, so die SZ weiter, lasse sich jedoch „nicht auf ein Datum festnageln“.

Es reiche also nicht aus, „eine einzelne Schätzung eines einzelnen Wertes an einem einzelnen Tag aus einem komplexen Geschehen herauszupicken, um Wirkung oder Versagen aller Maßnahmen zu bestimmen“, der 23. März sei „nicht das eine entscheidende Datum, an dem Deutschland zum Stillstand kam“. Neben der Absage von Großveranstaltungen am 8. März – ein Tag vor dem vom RKI ausgewiesenen Höhepunkt der R-Kurve – weist die SZ auf die Mahnung der Bundesregierung ab 13. März hin, „Sozialkontakte einzuschränken“. In ihrer Fernsehansprache vom 18. März wiederholte Bundeskanzlerin Merkel in eindringlichen Worten den Appell, soziale Kontakte zu minimieren. Man setzte hier also – ganz ähnlich wie in „Schweden, das alles besser macht“ (laut SZ Falschbehauptung 9) – noch auf Freiwilligkeit und (wie dort) auf die „Selbstdisziplin der Bevölkerung“… Die R-Kurve fiel weiter.

Das Datum „23. März“ ist indes in der Tat „entscheidend“, zumindest in der Rückschau! Denn zu diesem Zeitpunkt „traten in Deutschland weitreichende Kontaktverbote in Kraft“, als „der Wendepunkt längst erreicht“ war, beobachtet auch die SZ. Der bundesweite „Lockdown“ war unbestritten von allen ergriffenen Maßnahmen die drastischste, setzte er doch mit staatlichem Zwang gleich mehrere Grundrechte zeitweilig außer Kraft – auch wenn die Bundesregierung zu diesem frühen Zeitpunkt, so heißt es, die vom RKI erst am 15. April veröffentlichte R-Kurve in ihrer Entscheidungsfindung nicht zu Rate ziehen konnte. Eine R-Kurve, die dann aber zu der wichtigsten Orientierungsgröße staatlichen Handelns wurde.

Da der R-Wert, so die SZ weiter, „wie alle epidemiologischen Kennziffern Unsicherheiten“ habe, betrachtet sie ihn „gemeinsam mit anderen Indikatoren“. So zeigten „die Kurven des RKI“, dass die Zahl der Neuerkrankungen „erst nach der letzten Maßnahme, ab Anfang April, deutlich abnahm“. Für die SZ ist also die „dritte Intervention“ (Kontaktbeschränkungen) vom 23. März Ursache dafür, dass „weniger Menschen als zuvor erkrankten“. Das ist falsch! Denn die RKI-Kurve der Neuinfektionen spiegelt lediglich die besprochene R-Kurve wider, erstere ist die zeitlich verschobene Auswirkung der zweiten Kurve, da die Inkubationszeit, an deren Ende eine angesteckte Person Symptome zeigt, bis zu zwei Wochen beträgt; von der Zeit, die bis zur offiziellen Registrierung einer Neuinfektion vergeht, ganz zu schweigen.

„Alles spricht dafür“, so Nida-Rümelin, „dass wir die Zahl der Infizierten nicht einmal näherungsweise kennen“. Überhaupt ist in der Corona-Krise das „Nicht-Wissen“ der komplexen Zusammenhänge immens, wie die 3sat-Wissenschaftssendung „Scobel“ mit Verweis auf Sokrates („Ich weiß, dass ich nicht weiß“) überzeugend herausgearbeitet hat. Diese Komplexität in einer V.U.C.A-Welt sollte Anlass sein, auf bipolares Ausgrenzen in „Faktenchecks“ als „Praxis der Diffamierung“ (Nida-Rümelin) selbstkritisch zu verzichten. Vielleicht leistet dieses sogar einem Konspirationsdenken Vorschub, dem man doch mit Aufklärung begegnen möchte. Ein Paradox, das zu Beginn der Krise unter den Bedingungen einer „Tyrannei der Mehrheit“ (Alexis de Tocqueville) mit ihren informellen wie negativen Folgen für das Recht auf freie (!) Meinungsäußerung besonders zu spüren war. Sind die sich derzeit zunehmend radikalisierenden „Hygiene-Demos“ u.a. hiervon eine Auswirkung?

„Kritik ist nicht reserviert für coronafreie Zeiten“, gibt Bundespräsident Steinmeier in einem SZ-Gastbeitrag zu bedenken. Ein Denkanstoß, der m.E. auch an die Kritikfunktion eines führenden Qualitätsmediums wie der SZ appelliert und dessen wichtige Integrationsfunktion miteinschließt. Erfreulich ist indes, dass sich die Mehrheit der Hygiene-Demonstrierenden, so scheint es, in ihrer Kritik auf das Grundgesetz beruft und nicht auf eine völkische Essenz deutscher Kultur, die durch den Lockdown verraten worden sei. Vielleicht könnte man diesen Befund im Hinblick auf die Verschwörungstheoretiker unter ihnen als konspirativ gelebten „Verfassungspatriotismus“ (Jürgen Habermas) bezeichnen.

Jüngst befand die SZ („Ein Land im Stresstest“, 22.05.20), dass „manches, was Politiker in der Pandemie beschlossen und Behörden umgesetzt haben, übertrieben“ gewesen sei. Eine Zwischenbilanz zeige aber: „Alles in allem hat sich die Bundesrepublik gut geschlagen“. Im internationalen Vergleich scheint viel dafür zu sprechen, zu dieser Einschätzung zu gelangen. Vielleicht hätte sich die Bundesrepublik aber noch besser geschlagen, wären Alternativen zum Lockdown, deren verheerenden Auswirkungen sich jetzt abzuzeichnen beginnen, in einem öffentlichen „Diskurs“ zwischen den „kommunikativ Handelnden“ (Habermas) abgewogen worden. In diesen Diskurs hätten auch Erkenntnisse der sozialmedizinischen Forschung und der Sozialpsychologie Berücksichtigung finden können, da sich der „soziale Shutdown auch zu einem immunologischen ausweiten“ kann (Thomas Hardtmuth).

„Das Ziel der umfassenden Rationalität politischer Praxis“, so Nida-Rümelin“, erfordert nicht nur „wissenschaftliche Expertise“, sondern auch „die Urteilskraft der Bürgerschaft“. Diese und diejenigen, „die Politik zum Beruf gemacht haben“ (Nida-Rümelin) sollten sich m.E. eine der Lektionen aus Albert Camus´ „Die Pest“ zu eigen machen, in der eine der Charaktere sagt: „Keiner auf der Welt, keiner kann jemals immun sein“. Eine grundsätzliche Erkenntnis über die natürliche Verwundbarkeit und Verletzlichkeit menschlichen Lebens, die für die alternden, Gegenwarts-fixierten Leistungsgesellschaften des Westens empfehlenswert zu sein scheint, die von Soziologen wie Ulrich Beck bis Zygmunt Bauman et al. als zunehmend von Angst besetzt beschrieben werden; hierzulande genießen die „Risikogruppen“ der über 60-Jährigen im Vergleich zu den jüngeren Generationen eine überwältigende Wahlmacht.

„Das Virus“, wahrgenommen als ein von außen kommender, unbekannter Feind – über den wir aber dank des „skeptischen“ Mikrobiologen Sucharit Bhakdi, der schon früh mehr Obduk-tionen forderte, mittlerweile mehr wissen – scheint wie in einem Brennglas Projektionsfläche für all diese Ängste geworden zu sein und verleiht ihnen einen vagen Sinn. Sinnstiftend sollte jedoch vielmehr einer der schlauesten Sätze in dieser Krise sein, der von Schäuble stammt: Die Menschenwürde ist unantastbar – das schließe aber nicht aus, „dass wir sterben müssen“.

Mit freundlichen Grüßen

Götz-Dietrich Opitz

Porträt Dr. Götz-Dietrich Opitz
Dr. Götz-Dietrich Opitz

GÖTZ-DIETRICH OPITZ, Jahrgang 1964, Dr. phil. der Amerikanischen Kulturgeschichte (US-Forschungsaufenthalt in New York City 1994-95), ist PR-Experte, Publizist und Fundraiser. Derzeit arbeitet er für die Munich Fundraising School und engagiert sich für „The Natural Step Deutschland“ sowie für WSA Germany. An der Fresenius-Hochschule München hielt er im WS 2016/17 einen Lehrauftrag zum Thema „Journalismus und PR“ ab. 2001-02 arbeitete er als Programmdirektor beim internationalen Konferenzzentrum „Salzburg Global Seminar“. Nach seiner Tätigkeit als Wahlkampfsekretär für Otto Schily (MdB) 1990-91 arbeitete er in Washington, D.C. 1991-92 als Congressional Fellow für Hon. Charles B. Rangel im Repräsentantenhaus des US-Kongress. Er publizierte zahlreiche Artikel und Monographien, Interviews, Vorträge und Seminare. Seine Interessen reichen von Sport über Reisen bis hin zum Chorsingen (MiCS) und Komponieren.